Zum Spiel gegen Sandhausen prangte es weithin sichtbar im K‑Block. Aber auch in zahlreichen anderen Stadien stand es mal größer, mal kleiner, mal auf Tapete, mal auf Folie geschrieben. „Unser Problem mit euch“ war die Einleitung zu einer Aufzählung von verschiedenen Problemen, welche wir Fans mit dem DFB haben. Sie variierten von Stadion zu Stadion, doch hatten alle dieselbe Botschaft. Es läuft was schief im Deutschen Fußball. Es geht nicht nur um Pyrotechnik. Es gibt viele verschiedene Konfliktfelder. Und der Deutsche Fußball-Bund soll sie endlich angehen.
An dieser Stelle möchten wir euch die verschiedenen Probleme sowie dazugehörige Lösungsansätze näher erläutern. In regelmäßigen Abständen werden wir hier die einzelnen Themenfelder vorstellen. Anschließend werden wir einen Blick über den Tellerrand werfen. Wie gehen andere Länder mit verschiedenen Problemen um, welche Lösungsansätze gibt es und wie werden diese umgesetzt?
Den Anfang macht dabei ein Thema, dass kein eigentliches Problemfeld im engeren Sinne ist, sondern wie ein Damoklesschwert über der deutschen Fankultur schwebt. Immer wieder, wenn es Probleme mit den Fanszenen gibt, wird mit den sogenannten englischen Verhältnissen gedroht. Es ist ein Druckmittel von Verbänden und Politik, um die von ihnen befürchtete Revolution in den Stadien zu verhindern. “Seht hin, es geht auch schlimmer, also bleibt lieber ruhig.” Durch ein Bedrohungszenario sollen so Proteste möglichst klein gehalten werden und möglichst viele Fans abgeschreckt werden. Im nachfolgenden Text versuchen wir, dieser Logik den Wind aus den Segeln zu nehmen.
Englische Verhältnisse? Not my Way!
Gerade tobt eine Diskussion über Fußballfans in der deutschen Presselandschaft. Die Intensität der geführten Debatte erreicht eine bis hierhin unerkannte Härte. Der Verband ist nun auch zu härteren Bandagen übergewechselt und auch die Politik wird sich langsam aber sicher in diesen Konflikt mit einmischen.
Immer wieder taucht dabei die Phrase „Englische Verhältnisse“ auf. Egal ob als Warnung oder als Drohung. Doch was genau ist damit eigentlich gemeint? Den Gegner auf einen Tee in die Stube einladen? Mitnichten, gemeint ist die Realität in englischen Stadien und darüber hinaus noch die Dominanz des Geldes in den englischen Fußballligen. In den oberen Ligen gleichen die Spiele einem Totentanz, nur bei Derbys kommt das Flair auf, was in den 60er und 70er Jahren viele Blicke auf sich zog und weltweit einzigartig war. Gerade Spieler von Dynamo die in den goldenen Zeiten unseres Klubs auf der Insel im Europapokal spielten, schwärmten und waren von der Stimmung in den englischen Stadien begeistert. Heute ist davon nichts mehr übrig. Stehplätze sucht man vergebens. Ticketpreise sind enorm hoch. Ein Heer an Ordnern und Stewards sorgt für Einhaltung der Regeln. Sitzen ist Pflicht, wer aufsteht wird hingewiesen sich zu setzen. Bei erneutem „Fehlverhalten“ wird man des Stadions verwiesen. Stadionverbote mit lebenslanger Dauer sind keine Seltenheit und jedes noch so kleinste Vergehen wird von Kameras erfasst und drakonisch bestraft. Jede Art von Kreativität und Opposition wird unterdrückt und gar nicht möglich gemacht. Man merkt also, der Stadionbesuch erinnert eher an einen überteuerten Besuch der Oper, bei dem ein Räuspern schon den Sitznachbar verärgern könnte und die Stewards auf den Plan ruft.
Mittlerweile ist es eine gängige Verlautbarung seitens der Verbände, in Deutschland jederzeit „englische Verhältnisse“ einführen zu können. Was zunächst recht simpel klingt, man erhöhe einfach die Ticketpreise und führe möglichst viele, dämliche Regularien für die Zuschauer ein, ist bei näherer Betrachtung eine fast schon makabere Drohung. Denn worüber die deutschen Funktionäre großzügig hinwegsehen, sind die Umstände, die zu diesen Verhältnissen führen konnten. Um sie zu verstehen, muss man ins Jahr 1989 zurückblicken. Es ist der 15. April 1989, der Tag der Katastrophe von Hillsborough mit 96 Toten und 766 Verletzten im Stadion in Sheffield, der den englischen Fußball für immer veränderte. Die Katastrophe ereignete sich während des Halbfinalspiels um den FA Cup zwischen dem FC Liverpool und Nottingham Forest und gilt bis heute als eine der größten Tragödien in der Geschichte des Fußballs. Dem vorangegangen waren die Katastrophen im belgischen Heyselstadion 1985 und der Tribünenbrand in Bradford 1985.
Diese schlimmen Ereignisse dienten als Vorwand, um zum Schlag gegen die britische Fankultur auszuholen. Die aufkommende Hooliganbewegung war den britischen Verbänden ein Dorn im Auge. Die Hooligans sind etwa zeitgleich mit der in Italien aufkommenden Ultrabewegung entstanden. Da die englischen Verbände und die Politik dieser Jugendbewegung nicht Herr werden konnten oder wollten, kamen die tragischen Ereignisse gerade Recht. Die Hooligans kamen aus eher sozial niederen Schichten. Das einzige was sie sich leisten konnten, waren die Stehplätze. Also versprach Innenminister Douglas Hurd zwei Tage nach der Tragödie, ein Gesetz zu verabschieden, das alle Vereine der Liga verpflichten würde, Stehplätze aus ihren Stadien zu verbannen. Dabei ist die Schuld für die Katastrophen nicht bei Hooligans zu suchen. 27 Jahre nach der Katastrophe stellte die sogenannte Goldring-Untersuchung fest, dass es kein Zuschauerfehlverhalten war, sondern dass Polizei und Ordner gegen Gesetze und Vorschriften verstießen, aber auch der Verein Sheffield Wednesday aufgrund damals veralteter Stadien-Standards Schuld hatte. Im Laufe der Jahre wurden Fakten vertuscht und vor Gericht gelogen. Aktuell gibt es sechs Angeklagte, davon drei Polizisten, ein Jurist sowie der ehemalige Geschäftsführer von Sheffield. Vier Tage nach der Katastrophe behauptete “The Sun”, das englische Pendant zur BILD, dass Liverpooler Fans die Polizei bei Rettungsarbeiten behinderten, Opfer bestahlen oder auf sie urinierten. Im Rahmen der Goldring-Untersuchung wurde aufgeklärt, dass diese Vorwürfe von der Nachrichtenagentur White’s aus Sheffield ungefiltert an verschiedene Medien verbreitet wurden und von der Sun unverändert übernommen worden waren. White’s ihrerseits stützte sich auf die Angaben eines Polizisten, der zugab, seine Aussagen aus verschiedenen Mitteilungen von Kollegen zusammengesetzt zu haben, und das sie nicht der Wahrheit entsprächen. Erst 15 Jahre nach der Katastrophe folgte eine Entschuldigung. Auch bei der Heyseltragödie hält die UEFA eine große Aktie an dem Geschehenen. Ein Mitarbeiter verkaufte Karten illegal über ein Reisebüro an Juve-Fans im neutralen Bereich und ebenfalls fehlten Sicherheitsstandards im Stadion.
Erst eine der größten Tragödien des Fußballs waren nötig, verbunden mit einer riesigen Verschwörung, mit Lügen und Propaganda, um die englischen Verhältnisse zu ermöglichen. Und es ist eine gefährliche Mischung aus Unwissenheit, Ignoranz und Zynismus, wenn deutsche Fußballfunktionäre mit eben diesen Verhältnissen drohen, um unsere lebendige Fankultur aus den Stadien zu verbannen. Würde man sich tatsächlich mit der Materie beschäftigen, statt hohle Phrasen zu verkünden, dürften auch die Jungs in Frankfurt feststellen, dass der Vergleich mit der Situation in Deutschland gewaltig hinkt. Zuschauerausschreitungen im Stadion sind eher eine Seltenheit. Die Hooligankultur ist im Stadion nicht präsent und allgemein eher im Verborgenen weitab der Gesellschaft aktiv. Sicherheitsstandards sind in den deutschen Multifunktionsarenen unglaublich hoch und nicht vergleichbar mit den maroden Stadien der 80er Jahre in England. Ordnerpersonal ist hierzulande geschult und ausgebildet und besteht nicht, wie damals in England, aus ehrenamtlichen Vereinsmitgliedern, die so umsonst die Spiele schauen konnten.
Nein, vielmehr kann das Androhen „englischer Verhältnisse“ als Versuch angesehen werden, jede mögliche Opposition aus den Stadien zu verdrängen. Durch eine Überteuerung der Karten findet eine Ausgrenzung für sozial schwächere und auch kritische Fans statt, um somit den Weg für noch mehr Geld und Umsatz zu ebnen. Fans im Stadion sollen ihr Maul halten und zahlen. Irgendwann sind dann auch in Deutschland astronomische Summen im Umlauf, die in keiner normalen Relation mehr stehen. Das sind die eigentlichen Beweggründe, wenn es um englische Verhältnisse geht. Nicht die Sicherheit steht im Vordergrund, es geht lediglich darum noch mehr Geld zu generieren. Der DFB führt sich dabei als alleiniger Eigentümer des Fußballs auf. Doch er vergisst, dass Fußball ein Volksgut ist. Und die Ultras wollen das bewahren!